Displaced Person/Flüchtling – wer waren die „Displaced Persons“?

Shownotes

11,3 Millionen Menschen galten nach dem Zweiten Weltkrieg als „Displaced Persons“ – Überlebende der Shoah, Menschen, die verschleppt wurden, um Zwangsarbeit zu leisten, aber auch Menschen, die vor der Roten Armee flohen und Täter:innen.

Diese wurden weiter unterschieden, in immer wieder unterschiedliche Kategorien, bis am Ende der Begriff des Flüchtlings als Kategorie Teil internationalen Rechts wurde. Auch die Aufnahmeländer unterschieden sie – vor allem nach Arbeitsfähigkeit und Qualifikation.

Christina Wirth promoviert im Teilprojekt „Von den „Displaced Persons“ zum „Flüchtling“. Rechtlich-bürokratische Humandifferenzierung in der Nachkriegszeit“. Sie berichtet davon, was mit den Displaced Persons nach dem Krieg geschah, von Ernest Michel, der von einem Todesmarsch floh und in amerikanische Gefangenschaft geriet und wie Nachfahren von Überlebenden auf ihre Forschung reagieren. Er wurde später Journalist und berichtete von den Nürnberger Prozessen und machte es sich zur Aufgabe, als Überlebender von seiner Zeit in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern zu berichten. Sein Zeitzeugeninterview könnt ihr beim Fritz-Bauer-Institut sehen. Ernest Michel hat auch eine Autobiografie geschrieben. In "Promises Kept. Ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten" berichtet er von der NS-Zeit, den Grauen von Auschwitz, aber auch von seiner Flucht und seinem Engagement für andere Überlebende. Der in der Episode ausgespielte SWR-Beitrag Stolpersteine berichtet vom Schicksal seiner Familie.

Wer noch nicht genug von Podcasts hat: In Zusammenarbeit mit der USC Shoah Foundation entwickelte Rachael Cerroti den Podcast "We share the same sky", in dem sie in sieben Episoden der Geschichte ihrer Großmutter nachgeht - ebenfalls Überlebende der Shoah und Displaced Person.

Der SFB 1482 Humandifferenzierung ist an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und am Leibnizinstitut für europäische Geschichte angesiedelt. Finanziert wird er von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Podcast Team: Host: Friederike Brinker Producer: Marco Mazur studentische Hilfskraft: Tamara Vitzthum

Alle Infos zu unserem SFB findet ihr auf unserer Website, Instagram, Threads oder Mastodon.

Kontaktieren könnt ihr uns natürlich auch per Mail: sfb1482.kommunikation@uni-mainz.de Foto: Christina Wirth

Transkript anzeigen

00:00:00: Und dann erzähle ich sehr, sehr offen, dass es mir um Displaced Persons geht. Und man hat oft den Moment, dass die Leute kurz innehalten und einem dann sehr emotional erzählen, dass sie das besonders toll finden, weil in der Regel Geschichtswissenschaft sich mit denjenigen beschäftigt, die in der Shoah verstorben sind und weniger die Frage stellen: Wie war eigentlich das Überleben möglich?

00:00:23: Eine kurze Anmerkung noch bevor es losgeht: Wir möchten gerne herausfinden, wie wir unseren Podcast verbessern können und haben deshalb eine kleine Umfrage vorbereitet, die wir in den Shownotes verlinken. Wir würden uns total freuen, wenn viele von euch diese ausfüllen. Es dauert keine fünf Minuten. Gerne könnte natürlich auch euer Feedback per Mail schicken. Die Adresse dafür findet ihr ebenfalls in den Shownotes.

00:00:47: Hallo, wir sind das Podcast Team Friederike Brinker.

00:00:50: Tamara Vitzthum

00:00:50: und Marco Mazur.

00:00:53: Christina Wirth ist Historikerin und beschäftigt sich mit Migration, jüdischer Geschichte und den Holocaust Studies. Bei uns promoviert sie im Projekt „Von den Displaced Persons zum Flüchtling. Rechtlich-bürokratische Humandifferenzierung in der Nachkriegszeit“. Aufgenommen haben wir das Gespräch bereits im August 2023, weshalb wir nicht auf aktuelle Ereignisse eingehen.

00:01:15: Sone/Solche: Ein Podcast über Menschen und wie sie sich unterscheiden – und wie die Kulturwissenschaften dazu forschen. Mit dem Sonderforschungsbereich Humandifferenzierung.

00:01:34: Ich beschäftige mich in meiner Doktorarbeit mit den Displaced Persons und der Geschichte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1951, wo international die Flüchtlingskonvention entschieden worden ist. Und ich beschäftige mich mit den Menschen, die zu diesem Zeitraum entortet waren, und interessiere mich dafür, wie der Umgang mit ihnen war, auf der einen Seite, aber auch, wie sie selber ihre Position innerhalb dieser internationalen Gemengelage eingenommen haben und für sich selbst eingetreten sind.

00:02:06: Und was ist eine Displaced Person?

00:02:10: Das ist ein Begriff, den es vorher noch nicht gegeben hat. Den haben die Alliierten 1944 geprägt, als ihnen klar war, dass sie bald den Zweiten Weltkrieg gewinnen werden und angenommen haben – und auch völlig zurecht – dass unglaublich viele Menschen, sie haben gerechnet mit 11,3 Millionen, nicht mehr da sein werden, wo sie vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Sie nannten das „displaced“, so wie könnte man verloren oder entortet, so ähnlich könnte man das übersetzen. So ähnlich, wie man eigentlich von Gegenständen reden würde, weil man keinen guten Begriff dafür hatte, wie man jetzt Menschen nennt, die einfach aufgrund des Kriegsgeschehens und der Shoah ganz weit weg von ihren Herkunftsorten waren.

00:02:52: Und was, was gab es da? Ist meine, bei der Shoah, ist ja klar, die Menschen wurden aus den Konzentrationslagern befreit. Aber was für Gründe gab es noch, dass Leute entortet waren?

00:03:06: Also, neben den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, ist die größte Gruppe diejenigen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden sind, meistens aus osteuropäischen Gebieten, aber auch aus westeuropäischen Orten. Das ist eine besonders große Gruppe, von denen man erst mal nicht annehmen würde, dass das eine Opfergruppe war, die aber durchaus displaced gewesen sind. Also zu dem Zeitpunkt noch nicht unterschieden zwischen Opfern und Tätern in dem Sinne, wie wir das heute machen und mit unseren moralisch ethischen Standards, sondern es geht wirklich um die, die aufgefunden worden sind.Und das sind eben neben den Opfern des Nationalsozialismus, auch die, die beispielsweise vor der Roten Armee geflohen sind, indem sie sich freiwillig gemeldet haben, für die Nazis zu arbeiten oder die Wehrmachtssoldaten, die desertiert sind und sich in Wäldern versteckt haben und sich trotzdem langsam Richtung Deutschland bewegt haben. Das können Menschen sein, die sich versteckt haben vor den Nationalsozialisten, die also nie in die Repressionsapparat gegangen sind. Aber es ist am Ende eine unglaublich heterogene und diverse Gruppe.

00:04:13: Wie geht man eigentlich mit so einer heterogenen Gruppe um? Also ich meine, man hat ja… es geht ja auch um Bürokratie. Wie fasst man all diese Menschen zusammen?

00:04:25: Weil es so unglaublich schwer ist, diesen Menschen einen übergeordneten Titel zu geben, hat man sie Displaced Persons genannt, was nach alles und gar nichts klingt im ersten Moment, sodass man viele Menschen darunter zusammenfassen kann. Und dann, über die nächsten Jahre hat man festgestellt, dass dieser Begriff zu groß ist. Also von Anfang an hat man zuerst in Kategorien der Kriegszeit gedacht. Man hat dann Alliierte-DPs, unterschieden von Ex-Enemy-DPs und Enemy-DPs und hat da gemerkt: Oh, man muss ja auch da schon unterscheiden, es ist einfach eine viel zu große Überkategorie. Und das verfeinert sich dann über die nächsten Jahre mit verschiedenen Testverfahren, könnte man das nennen. Es wurde natürlich damals nicht als Test geframed, aber man könnte das heute so lesen. Und am Ende dieses Prozesses entsteht der internationale Flüchtlings-Begriff. Und genau dieses Dazwischen – die vielen Versuche, diese Menschen zu greifen, zu kategorisieren und ihnen Rechte zu und abzusprechen – genau darum geht es in meiner Dissertation.

00:05:23: Und der Flüchtlings-Begriff ist dann auch nicht nur ein neuer Begriff, sondern ist dann wahrscheinlich auch mit bestimmten Rechten verknüpft, oder?

00:05:30: Ganz genau. Der Begriff des Flüchtlings wird so nicht 1951 erfunden. Es gibt zum Beispiel schon mit dem Nansen-Pass und nach dem Ersten Weltkrieg Diskussionen um Flüchtlinge auch im internationalen Recht. Aber die sind eben noch nicht international festgeschrieben und noch nicht von allen Staaten anerkannt. Und das passiert dann eben mit der Genfer Konvention 1951 und mit dieser Konvention wird festgeschrieben, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit jemand als Geflüchteter gilt. Und das ist sehr anders als mit dem Displaced Persons, weil das erst mal das Kriterium war, dass die Leute nicht an ihren Herkunftsort sind und möglichst zurückkehren sollten dahin, wo sie ursprünglich waren. Das ist ein sehr großer Unterschied, weil beim Flüchtlings-Begriff weiß man, dass aufgrund beispielsweise von Kriegseinwirkungen und Kriegshandlungen in den Herkunftsländern eine Rückkehr überhaupt nicht gegeben ist.

00:06:26: Okay, ich hatte nämlich einfach diese Idee. Ich hatte, als ich mich in dein Projekt eingelesen habe, gedacht: Okay, das ist die Gruppe der Displaced Persons. Für die wird irgendwie Politik gemacht und vielleicht gibt es auch so was wie Selbstorganisation. Aber das funktioniert natürlich überhaupt nicht bei so was, oder?

00:06:41: Du meinst jetzt, Selbstorganisation funktioniert nicht?

00:06:43: Mehr, wie wenn da KZ-Überlebende und Nazis drin sind.

00:06:48: Das ist eine sehr, sehr gute Frage: Also wie funktioniert es, diese Menschen zu sortieren? Vor allem in diesem Moment 1945, den man sich ja als so einen Kollaps des Zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Systems vorstellen kann, mit ganz viel Chaos und Ungewissheiten. Da kommen also die die alliierten Militärbehörden und das Militär selber an solche Orte und findet Gruppen vor, die in sich heterogen sind. Also selbst wenn wir jetzt nur unterscheiden zwischen Tätern, Opfern und Kollaborateuren, dann sind auch diese drei Gruppen in sich wieder sehr heterogen. Und das zu verwalten ist unglaublich schwierig, weil alle unterschiedlichen Eigeninteressen haben. Ganz am Anfang haben insbesondere diejenigen, die Opfer der Shoah geworden sind, das Interesse, nach Hause zurückzukehren, ihre Familienmitglieder zu finden und sich wieder zu verbinden mit der Familie und ihrer Vor-Shoah-Erfahrung.Als aber schnell klar wurde, dass das Ausmaß der Zerstörung und des Zivilisationsbruch doch so massiv war und diese Leute in der Regel gar keine Familie mehr hatten und nicht nach Hause zurückkehren konnten, haben sie sich anders zusammengeschlossen – und das auch sehr früh! Also Displaced Persons haben sehr früh Interessenvertretungen gebildet und sich bei den Alliierten dafür eingesetzt, dass ihre eigenen spezifischen Interessen auch durchgesetzt worden sind. Auch war es ein großes Anliegen, sich von den anderen abzugrenzen.

00:08:21: Kannst du da ein Beispiel, vielleicht, nennen?

00:08:24: Das bekannteste Beispiel sind die jüdischen Displaced Persons. Die wurden am Anfang nach ihrer Nationalität kategorisiert. Das heißt, polnische Jüdinnen und Juden wurden als polnisch gesehen und mit Polinnen und Polen zusammen in Displaced Persons-Lager getan oder untergebracht. Das ist aber dahingehend problematisch, dass sie sich selber anders definieren, dass das Jüdischsein insbesondere unter der Erfahrung der Shoah – der maximalen Ausgrenzung, Vernichtung und Verfolgung – für sie höherwertig war als die mögliche Nationalangehörigkeit. Und sie haben sich massiv dafür eingesetzt, als eigene Gruppe wahrgenommen zu werden, unabhängig von der Nationalität. Und gerade im polnischen Fall ist das relevant, weil auch in Polen ein massiver, brutaler Antisemitismus geherrscht hat. Auch unter denjenigen, die als Zwangsarbeitende in Deutschland arbeiten mussten, sodass nicht gewährleistet war, dass Jüdinnen und Juden an diesen Orten sicher sind.

00:09:33: Und regional, was du ja schon vorhin gesagt hast, bist du auf die Ruhr-Regionen fokussiert. Was ist das Besondere an dieser Region?

00:09:41: Die Ruhr-Region hat unglaublich viele Zwangsarbeiter gehabt, weil es ja sehr viel schwere und kriegswichtige Industrie gegeben hat. Das heißt, es gibt eine sehr große Anzahl von Menschen, die ich da untersuchen kann. Dort waren aber auch vor 1945 beispielsweise jüdische Gemeinden aktiv. Das ist für mich dahingehend sinnvoll, dass ich mir die Geschichte der Jüdinnen und Juden aus dem Ruhrgebiet anschauen kann und was mit denen eigentlich passiert ist – ob die auch Displaced Persons geworden sind, da sie ja, in der Regel, wenn sie nicht vorher ins Exil gehen konnten, auch verfolgt worden sind von den Nationalsozialist*innen. Es ist erstmal, um überhaupt Quellen zu finden, eine – in Anführungsstrichen – „gute Grundlage“. Das Ruhrgebiet ist aber auch aus einem theoretisch-methodischen Herangehen sehr interessant, weil es ein Ort ist, der schon vor 1945 von Mobilität geprägt war. Schon vor 1945 war das Ruhrgebiet eine sehr industrielle Region, wo Menschen angeworben worden sind, um zu arbeiten, weil sie Fachkräfte waren, weil sie günstige Arbeiterinnen waren und die Verwaltung vor Ort waren, gewöhnt, mit Internationalen zu arbeiten. Und das ist besonders für den Endzeitraum meiner Dissertation spannend. Wenn die Displaced Persons nicht mehr von der britischen Besatzung und der UNRRA oder beziehungsweise der IRO – das sind Hilfsorganisationen der Zeit – verwaltet werden, sondern dass die letzten übriggebliebenen Displaced Persons übergeben werden in die deutsche Verwaltung. Und dann kann man schauen, ist das eigentlich anders im Ruhrgebiet als in anderen Teilen von Deutschland, weil die deutschen Verwaltungen schon Internationale kannten und schon mal verwaltet haben? In diesem Sinne…

00:11:27: Und ist es anders?

00:11:29: In dem Punkt bin ich in meiner Forschung noch nicht sicher. Ich gehe aber davon aus, dass das anders ist, aber das ist nur eine Hypothese gerade.

00:11:36: Was ist mit diesen Zwangsarbeitern passiert nach dem Zweiten Weltkrieg?

00:11:41: Je nachdem, wo sie herkamen, was für einen Bildungshintergrund sie hatten und welche Wünsche sie spontan entwickelt haben, in der Zeit, in der sie von den Alliierten verwaltet worden sind, ist mit ihnen sehr Unterschiedliches passiert. Das ist jetzt sehr vage. Ich versuche, das ein bisschen einzugrenzen: Zwangsarbeiter aus westeuropäischen Ländern konnten in der Regel ziemlich schnell repatriiert werden. „Repatriieren“ ist das Wort der Zeit, Leute in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Und das ist das oberste Ziel derjenigen, die die Displaced Persons verwalten. Es wird aber auch schnell klar, dass es nicht mit allen Gruppen so einfach ist wie mit der westeuropäischen. Und da ist die osteuropäische Gruppe eine der schwierigsten, weil im beginnenden Kalten Krieg und mit Grenzverschiebungen und dem Erstarken der Sowjetunion ganz viele unterschiedliche Interessen vertreten worden sind, sowohl von der Verwaltung als auch von den Displaced Persons selber. Und die konnten nicht so schnell repatriiert werden, weil unter Umständen ihre Herkunftsländer, ihre Geburtsorte überhaupt keine Länder mehr waren. Oder ihre Geburtsorte auf einmal nicht mehr in Polen, sondern in der Sowjetunion gelegen haben und sie – teilweise auch sehr berechtigt – Sorge hatten, dass, wenn sie repatriiert werden, dass sie dort erst mal Strafverfolgung erfahren, weil gerade Zwangsarbeitende von den Sowjets als Kollaborateure angesehen worden sind. Das ist sehr relevant. Also es war nicht das Attraktivste, zurückzukehren in die Sowjetunion.

00:13:20: Und was haben die Leute dann gemacht?

00:13:23: Sie haben sich zu Interessensgruppen zusammengetan und sind massiv dafür eingetreten, dass sie nicht repatriiert werden. Sie haben sich geweigert. Teilweise lief das Ganze auch mit gewalttätigen Protesten – oder ging das mit gewalttätigen Protesten einher. In einem Ort im Ruhrgebiet ist Gerüchte halber einer Granate geschmissen worden, als sowjetische Offiziere Werbung für die Repatriierung in die Sowjetunion gemacht haben. Und dann gab es eine Form von Barrikaden-Kampf, um die da nicht hinzulassen. Und die britischen Besatzungsbehörden mussten sich diesen politischen Konflikten auch stellen.

00:14:04: Das heißt, die Leute wollten in Deutschland bleiben oder wollten sie auch weiterziehen? Denn ich kann mir vorstellen, das Land in dem zu Zwangsarbeit gezwungen ist, ist vielleicht auch nicht das Attraktivste, oder?

00:14:14: Ja, Deutschland war teils, teils attraktiv und unattraktiv. Das kommt jetzt wieder auf die Gruppe an. Also gerade, wenn wir an Menschen denken, die aus rassischen Gründen verfolgt worden sind, für die war Deutschland maximal unattraktiv. Gerade aus der Sorge heraus, dass die deutsche Bevölkerung weiterhin diese Form von Ideologie vertritt und man dort nicht sicher ist. Für andere Gruppen war Deutschland teilweise attraktiv, gerade im Ruhrgebiet, das hat eine lange Geschichte von Osteuropäer*innen, die dort gearbeitet haben. Es gab osteuropäische Communities und man konnte sich vorstellen, dort zu bleiben. Aber die Entscheidung darüber, wo man bleiben konnte, die waren nicht so frei. Das heißt, sowohl Zwangsarbeitende als auch andere Opfer des Nationalsozialismus waren für die Aufnahme Länder, in Anführungsstrichen, „unattraktiv“. Die wurden verfolgt, die hatten vielleicht körperliche Leiden, psychische Traumata auf alle möglichen Arten. Und es gab eben noch keine feste Regelung, was man mit diesen Menschen überhaupt macht. Deswegen waren sie in DP-Lagern. Und da findet dann Humandifferenzierung in dem Sinne statt, dass überlegt wird: Wen könnte man wohin bringen? Welches Land hat Interesse an wem? Und die Länder kommen dann nach und nach in eine Art Wettbewerbssituation, welche DPs sie aufnehmen, welche nicht, was attraktiv, was unattraktiv ist. Und ich habe jetzt auch bewusst, „was“ gesagt, weil es doch sehr kapitalistisch klingt. Das klingt so entmenschlichend, weil es eben um so, so viele Menschen geht.

00:15:56: Ich hatte bei „was“ an Qualifikationen oder so etwas ähnliches gedacht.

00:16:01: Das auf jeden Fall klar ist attraktiver für ein Aufnahmeland, wer eine Ausbildung hat, wer einen hohen Schulabschluss hat – aber in dem spezifischen Kontext von Ermordung, Verfolgung und Vernichtung eben auch, wer überhaupt arbeitsfähig ist. Und wenn man sich das Ganze als so einen Prozess vorstellt, dann gibt es eben attraktivere Gruppen von Displaced Persons, die recht schnell auswandern können und Aufnahmeländer finden, die dann ihre Regelungen lockern zur Einreise. Aber es gibt auch einen Hard Core, so nannte man das, der übrig bleibt. Ungefähr eine Millionen Menschen, die in der Regel sehr alt waren oder körperliche Gebrechen hatten, die bleiben am Ende in Deutschland. Der Hard Core – der harte Kern – der am Ende in die deutsche Verwaltung übergeht.

00:16:52: Gab es für die dann so was wie eine Renten-Regelung?

00:16:55: Solche Kämpfe finden über Jahrzehnte statt. Also gerade innerhalb der jüdischen Überlebensgruppe hat sich schon recht früh, in Kooperation mit den Hilfsorganisationen, die Claims Conference gebildet. Die gibt es heute immer noch, die sich dafür einsetzen, dass eben Wiedergutmachungsleistungen, Zurückzahlungen übernommen werden. Aber das etabliert sich eben erst über Jahre. Das stand 1945 bis 1951 noch nicht fest, wie man mit denen umgeht.

00:17:25: Das heißt, die waren erstmal wahrscheinlich in Armut gefangen.

00:17:30: Ja, das auf jeden Fall. Also in Armut in dem Sinne, dass Deutschland auch zu dem Zeitpunkt eine Form von Sozialstaat ist. Das heißt, die Leute leben jetzt nicht obdachlos auf der Straße und haben Ansprüche auf Hilfen, auf Staatsunterstützung. Sie kriegen innerhalb des deutschen Verwaltungssystem den Titel „Heimatlose Ausländer“. Denn je nachdem, welche Titel man kriegt, daran sind bestimmte Sozialleistungen geknüpft.

00:18:00: FB:Okay, und du hast ja auch mit Zeitzeugen-Interviews gearbeitet. Gibt es da irgendeine bestimmte Geschichte, die du vielleicht teilen kannst?

00:18:07: Ja, ich habe unglaublich viele Zeitzeugen-Interviews angeguckt. Mich interessieren sowohl diejenigen, die Displaced Persons geworden sind, als auch diejenigen, die mit Displaced Persons gearbeitet haben, sowohl bei den Besatzungsbehörden als auch bei den Hilfsorganisationen – weil ich mich dafür interessiere, wer eigentlich wie zusammenarbeitet und wie konkret diese Kategorien zustande kommen und welche sich durchsetzt. Aber die Geschichte der ganz unterschiedlichen Displaced Persons ist natürlich das, was einen am meisten berührt. Ich kann die Geschichte von Ernest Michel erzählen. Der wurde in Mannheim geboren, in eine jüdische Familie und hat versucht, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, auszuwandern. Der hatte zunächst das große Glück, dass er einen Brieffreund in den USA hatte. Mit dem hat er davor, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, schon hin und her geschrieben. Die waren beide jung, in einem ähnlichen Alter und irgendwann waren Ernests Eltern so verzweifelt, dass sie dieser amerikanischen Familie geschrieben haben: Wir brauchen Hilfe.Könntet ihr euch um unseren Sohn kümmern? Und die waren tatsächlich bereit, Die haben ein Affidavit geschickt. Das ist ein Dokument, in dem man als amerikanischer Staatsbürger quasi bürgen muss für eine Person, die potenziell auswandern möchte – das sie keine Bürde für das amerikanische Sozialsystem wird. Das erhält er. Das ist so während der Zeit des Nationalsozialismus schon eine große Hürde gewesen für die meisten Jüdinnen und Juden, so was überhaupt zu bekommen, weil man Kontakte in die USA brauchte. Er hatte einen Termin in der Botschaft und wird aber abgelehnt, in die USA auswandern zu dürfen, weil es sehr strenge Einwanderungsregeln gibt, die sogenannte Quota, die festlegt, wie viele Menschen zu welchem Zeitpunkt aus welchen Ländern einreisen dürfen. Er schafft entsprechend nicht auszuwandern kommt in die Fänge der Nationalsozialisten. Er leistet Zwangsarbeit im Ruhrgebiet, deswegen bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Er kommt nach Auschwitz, kommt nach Buchenwald, hat dort eine unglaublich harte Zeit, ist immer an der Grenze, das nicht zu überleben und wird dann auf einen Todesmarsch geschickt. Er entscheidet sich, mit ein paar Freunden zu fliehen, weil er merkt die SS-Männer oder Wehrmachtssoldaten – ganz genau sicher bin ich mir da gar nicht – die diesen sogenannten Todesmarsch begleiten, die waren wohl schon unaufmerksam. Also er hat sich gedacht, das ist meine Chance jetzt zu entkommen und flieht in den Wald irgendwo in der ostdeutschen Provinz und wird von Amerikanern aufgegriffen. Die Amerikaner finden ihn und weil er Deutsch spricht, halten sie ihn für einen Wehrmachtssoldaten. Und dann kommt er in einen Kriegsgefangenen-Lager, versucht direkt zu erklären, ich bin hier falsch, aber der Ton vor Ort ist sehr rau, so dass man ihm sagt: Du bist schon an der Reihe, jetzt warte mal, bis dein Interview ist, dann hören wir schon deine Geschichte an. Das macht er dann auch und ist inhaftiert mit SS- und Wehrmachtsmännern, die vorher seine Peiniger waren. Er entscheidet sich zu schweigen, bis er dran ist. Und hat dann irgendwann dieses besagte Interview und kann mithilfe des Tattoos an seinem Arm beweisen, dass er in Auschwitz gewesen ist. Die Amerikaner sind schockiert davon, dass sie jemanden fälschlicherweise inhaftiert haben und die Geschichte wandelt sich dann. Sie sind ihm dann sehr wohlgesonnen und stellen ihm so eine Art Freifahrtschein aus, dass er sich in Deutschland bewegen dürfe und dass er Benzin und Tankstellen bekommt, ohne dafür zu zahlen. Und er fährt nach Mannheim zurück. Also er bekommt ein Motorrad von den amerikanischen Soldaten, kommt nach Mannheim, wird auch dort unterstützt und geht dort ins DP-Camp und freundet sich mit dem Direktor des DP-Lagers an, der ihn unterstützt, so dass er einer der ersten ist, die in die USA auswandern können. Dazwischen allerdings, bevor er auswandert – und das macht ihn zu einer berühmten historischen Figur – darf er als Journalist arbeiten und berichtet über die Nürnberger Prozesse. Und das war eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, weil sie so viele Ebenen hat.

00:22:39: Ernest Michels Familie wird auch in der Sendung Stolpersteine vom SWR porträtiert. Den etwa dreiminütigen Beitrag spielen wir euch hier ein. Ihr findet ihn aber auch über den Link in unseren Shownotes. Dort haben wir euch auch ein Zeitzeugen Interview mit ihm verlinkt, dass ich euch sehr empfehlen.

00:22:56: SWR2 - Stolpersteine. Mannheim, Richard Wagner Straße 26. Hier wohnten: Otto Joseph Michel, Jahrgang 1879, Frieder Michel, geborene Wolf, Jahrgang 1884. Deportiert 22. Oktober 1940, Gurs. Ermordet in Auschwitz. Der Anschluss, den Sie anrufen, existiert nicht mehr. In seinem Buch „Promises kept. Ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten“ erinnert Ernest Michel an seine Eltern, an ihre größte Sorge: Was soll aus ihren zwei Kindern werden?

00:23:00: Eines Tages, Anfang 1939, klingelte das Telefon. Gute Nachrichten: Eine jüdische Hilfsorganisation in Frankreich teilte uns mit, dass sie meine kleine Schwester Lotte annehmen würde. Ich war nicht geeignet. Mit 15 Jahren war ich zu alt. Papi und Mami waren hin und hergerissen zwischen ihrem Wunsch, dass wenigstens eines von uns Kindern Deutschland verlassen konnte und ihrer Sorge um Lotte. Lotte war erst zehn Jahre alt und sollte allein in ein fremdes Land reisen. Aber wir hatten keine Wahl. Die einzige Information, die meine Eltern erhielten, war, dass jemand am Bahnhof in der ersten Stadt hinter der deutsch französischen Grenze auf sie warten würde. Wir bekamen weder einen Namen noch eine Adresse genannt. Nichts.

00:24:17: Beim letzten gemeinsamen Abendessen der Familie kann keiner etwas sagen und doch versuchen die Eltern Zuversichtlichkeit auszustrahlen. Sei ein braves jüdisches Mädchen und vergiss nicht, dir immer die Zähne zu putzen, gibt Frida Michel ihrer Tochter noch mit auf den Weg. Otto Michel steigt mit in den Zug bis nach Kehl, der letzten Bahnstation vor der französischen Grenze. Er blieb 24 Stunden lang am Bahnhof, lief auf und ab und hielt bei jedem Zug, der von der französischen Grenze zurückkam, nach Lotte Ausschau. Er hoffte, dass er Lotte nicht sehen würde, und betete, dass sie sicher über die Grenze gekommen war. Es war die schwierigste Sache, die ich je tun musste, gestand Papi uns. Zuerst wollte Lotte mich nicht gehen lassen. Ich will bei dir bleiben, rief sie immer wieder. Lass mich nicht allein. Aber wir wussten, dass er keine andere Wahl hatte. Sohn Ernest wird ein halbes Jahr später, zwei Tage nach Kriegsausbruch, mit vielen anderen Mannheimer Jugendlichen aus jüdischen Familien in ein Arbeitslager bei Berlin abkommandiert. Mit seinen Eltern in Mannheim kann er hin und wieder noch telefonieren. Doch im Oktober 1940 meldet sich bei der bekannten Nummer nur die Stimme der Telefonistin: Der Anschluss, den sie anrufen, existiert nicht mehr. Ernest Michel wird nie wieder etwas von seinen Eltern hören. Sie sind mit 6500 Juden aus Baden und der Pfalz in das französische Internierungslager Gurs verschleppt worden und werden 1942 in Auschwitz ermordet. Tochter Lotte wird von katholischen Ordensschwestern versteckt und überlebt in Frankreich. Sohn Ernst, der sich später Ernest nennt, übersteht Auschwitz und den Todesmarsch. Nach dem Krieg arbeitet er als Reporter und berichtet von den Nürnberger Prozessen, bevor er in die USA auswandert. SWR2 Stolpersteine.

00:26:05: Das ist jetzt eine Geschichte von jemandem aus Deutschland, der Displaced Persons geworden ist und die ist gut überliefert. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die meisten Displaced Persons eben aus Osteuropa kamen und das die Geschichten über sie viel weniger gut überliefert sind – auch schwerer zu überprüfen sind, gerade weil die Archive zerstört worden sind und so viel Bewegung da war und weil die Nationalsozialisten mit denen auch ganz anders umgegangen sind. Das heißt, man muss dabei immer bedenken, dass es so qualitative Unterschiede in den Interviews gibt und in den Geschichten, und dass man nicht ein Übergewicht auf diejenigen legt, deren Geschichte so besonders gut überliefert ist. Das ist eine große Schwierigkeit.

00:26:57: Die Geschichten sind ja alle mit viel Leid verbunden. Wie gehst du als Forscherin damit um?

00:27:05: Ich habe mich mit dem Leid, dass die Shoah und der Zivilisationsbruch um die Nationalsozialisten hervorgerufen hat, schon recht früh in meiner eigenen Schulzeit auseinandergesetzt und ein großes Interesse daran entwickelt, so dass ich schon meine ersten Schockmomente Recht recht früh hinter mich gebracht habe und mich überhaupt entschieden habe, in diesen Bereich zu gehen und in einer Expertise auf Holocaust Studies und jüdische Geschichte auszubilden. Ich habe immer gehofft, dass man im Geschichtsstudium ausgebildet wird, mit Leid umzugehen, in dem Sinne, dass man Strategien entwickelt, sich selbst zu schützen. Das ist nicht der Fall. Also es gibt sehr viele Studien um Täterschaft und spannenderweise werden die auch von Männern durchgeführt, weniger als von Frauen, wenn man sich das statistisch anschaut. Meiner Erfahrung nach hilft es aber viel darüber zu sprechen, mit Freund*innen, Kolleg*innen, mit anderen Expert*innen, weil doch ganz schnell klar wird: Wir sind alle auch Menschen und das, was historisch passiert, es geht uns ja trotzdem an und es macht dennoch was mit uns. Und gerade dieser Universalismen, die Menschen erfahren, in dem Leid, wenn man jetzt an den Verlust der Familie denkt, das können wir uns alle als empathische Wesen sehr gut vorstellen. Das heißt, es hilft, darüber zu sprechen. Es hilft sich Hilfe zu suchen, unter Umständen. Ob die professionell ist oder nicht, sei dahingestellt. Aber es gibt verschiedene Netzwerke, auch für junge Historiker*innen oder Menschen, die mit Täterschaft umgehen. Es gibt ein Netzwerk für Young Scholars. Das sind Kriminalisten, das sind Historiker, das sind Ethnologen, die mit harten Themen arbeiten, mit denen man sich darüber austauschen kann und davon profitiere ich sehr – weil es nicht ratsam ist, so zu tun, als müsste man immer hart sein. Das wird oft so suggeriert, als müsste man sehr neutral darüber sprechen können. Aber meiner Erfahrung nach hilft es zuzugeben, wo man emotional und sensibel ist. Und gleichzeitig stellt sich das Phänomen ein, dass man abstumpft, dass man in der Lage ist, sich Quellen, ob das Zeitzeugen-Interviews sind oder andere Dokumente der Zeit, vielleicht sogar, dass man in der Lage ist, nach seiner Fragestellung und Interessen sich das anzuschauen und ein bisschen von sich wegzuschieben. Ja.

00:29:35: Genau. Und ich meine, es gibt wahrscheinlich jetzt nicht mehr allzu viele Zeitzeugen von den Displaced Persons selber. Aber hast du vielleicht auch Kinder oder Enkel von Displaced Persons kennengelernt? Oder wie geht es denen mit den Geschichten ihrer Vorfahren?

00:29:52: Innerhalb meiner Forschung versuche ich, keine Interviews mit Menschen durchzuführen. Das ist ein Zeit-Aspekt, aber es hängt eben auch mit dem Aussterben der Zeitzeuginnen zusammen. Diejenigen, die noch leben, sind als Kinder in den Displaced Persons-Camps geboren worden und können ja unter Umständen gar keine Auskünfte geben über das, was mich interessiert. Gerade die Kategorisierung, die Erinnerungen. Und es ist unglaublich berührend, diese Menschen zu treffen und ich merke, wenn ich beispielsweise in jüdischen Gemeinden unterwegs bin – und das habe ich gerade während meiner Auslandsaufenthalte sehr viel gemacht – dass ich etwa in der der Central Synagoge in New York City mich mit Menschen unterhalten habe und die natürlich fragen, was man macht und was man beruflich macht. Und dann erzähle ich sehr, sehr offen, dass es mir um Displaced Persons geht. Und man hat oft den Moment, dass die Leute kurz innehalten und einem dann sehr emotional erzählen, dass sie das besonders toll finden, weil in der Regel Geschichtswissenschaft sich mit denjenigen beschäftigt, die in der Shoah verstorben sind und weniger die Frage stellen: Wie war eigentlich das Überleben möglich? Und wenn Sie diese Frage stellen, ist die oft sehr philosophisch und man fragt sich: Welche Kultur ist nach Auschwitz möglich? Welchen Zugang hat man zu Religion? Wie kann ein Individuum wieder Lebensfreude fassen? Aber die konkrete Biografie, wo ist die Person eigentlich aus welchen Gründen hingegangen und wie hat sie das hingekriegt? Das fällt oft ein bisschen unter den Tisch. Und die Menschen werden sehr redselig. Das ist meine akademische Antwort auf die Frage. Aber in meinem Privatleben habe ich während meines Auslandssemester in Israel, als ich noch Studentin war, ich habe dort meine Bachelorarbeit geschrieben, eine Frau kennengelernt, die mir immer anbietet, dass sie meine Großmutter sein könnte, weil wir uns so gut verstehen. Und sie ist in einem Displaced Persons Lager geboren worden, und wir haben eine ganz, ganz enge Verbindung. Und das war das allererste Mal, dass ich mit jemandem gesprochen habe, der auch überhaupt das Wort Displaced Persons benutzt hat. Ich kannte das zumindest in meinem Studium noch überhaupt nicht.

00:32:12: Und war das dann auch der Grund, dass du deine Doktorarbeit darauf fokussiert hast?

00:32:18: Tatsächlich habe ich noch gar nicht gewusst, dass es irgendwann mal für mich in die Displaced Persons Forschung geht. Jetzt, wo ich das mache, ergibt es total viel Sinn – auch biografisch und anhand dessen, was ich in meinem Studium so belegt habe, was immer so eine Mischung war, aus: Ich interessiere mich für Migration und Mehrsprachigkeit in meinem Deutschstudium und ich interessiere mich für die Shoah und die Frage nach dem Überleben nach dem Zivilisationsbruch in meinem Geschichtsstudium. Aber ich wusste noch überhaupt nicht, dass es darum gehen wird. Aber jetzt kann ich das natürlich schön verbinden und merke, dass das total gut zu mir passt und dass ich deswegen auch mit Herzblut an dieser Sache arbeite.

00:32:57: Wie findet man überhaupt Zeitzeugen oder die Unterlagen, die du brauchst? Wie machst du das?

00:33:06: Das ist ganz unterschiedlich. Ich bin in der dankbaren Position, dass heutzutage, 2023, Archive eigene Sammlungen dazu haben. Und es gibt auch Archive, die spezialisiert sind, darauf, Zeitzeugen-Interviews zu sammeln, diese Interviews durchzuführen. Das größte Archiv mit Zeitzeugen-Interviews, die mit Videos aufgenommen worden sind, also videografierte Zeitzeugen-Interviews, die liegen in Los Angeles bei der USC Shoah Foundation. Das ist das größte Archiv über Zeitzeugen-Interviews der Welt. Und das ist entstanden, weil Steven Spielberg, nachdem er den Film „Schindlers Liste“ aufgenommen hat, oder überhaupt seine Recherchen dafür durchgeführt hat, gemerkt hat: Da gibt es noch nicht so viel und schon gar nicht Video-basiert. Und hat dann ein millionenschweres Projekt gestartet, wo Menschen ausgebildet worden sind, Zeitzeugen-Interviews aufzunehmen. Das ist eine große meiner Quellen. Aber auch die einzelnen Erinnerungsinstitutionen weltweit haben Sammlungen dazu – aber eben auch die Überlebenden selber hatten ab irgendeinem Punkt das Bedürfnis sich mitzuteilen. Die konnten sich dann an solche Großprojekte wenden. Teilweise haben sie aber auch selber Bücher veröffentlicht und ihre eigenen Biografien geschrieben, als autobiografische Texte.

00:34:37: Okay, ich habe als letzte Frage immer noch: Was würdest du machen, wenn du nicht Historikerin wärst?

00:34:43: Was würde ich machen, wenn ich nicht Historikerin wäre? In meiner Schulzeit dachte ich, dass ich Ärztin werden will. Witzigerweise glaube ich auch aus ganz ähnlichen Gründen, warum ich jetzt Historikerin bin. Weil es mich interessiert, wie die Menschen denken, wie die Gesellschaft funktioniert. Und sowohl die Medizin als auch die Geschichtswissenschaft können darüber auf ganz unterschiedliche Art und Weise Auskunft geben. Und ich fand beide Rollen sehr interessant, habe aber gemerkt, dass mein naturwissenschaftliches Interesse nicht gleich dem ist, das ich für die Geschichtswissenschaft habe, wenn ich frei wählen könnte. Aber ich schwimmen jetzt ein bisschen, weil ich überlege, was meine coole Antwort ist. Ursprünglich wollte ich mich einschreiben für Philosophie und Kunst auf Lehramt. Und dann hatte ich Angst vor der Kunst-Zugangsprüfung, habe es nicht gemacht.

00:35:38: Fragen aus dem Publikum.

00:35:45: Genau. Ich habe mich ein bisschen umgehört und ein paar Hörer*innen-Fragen gesammelt. Die erste Frage ist: Was ist der Unterschied zwischen einer Displaced Person und einer oder einem Geflüchteten?

00:35:58: Der Begriff Displaced Persons war sehr weit. Der war für Menschen, die man aufgefunden hat, nach dem Zweiten Weltkrieg. Und da hat es im ersten Moment keine Rolle gespielt, aus welchen Gründen diese Menschen displaced waren. Ob das Menschen waren, die vor der Roten Armee geflohen sind, ob das Menschen waren, die aus dem Vernichtungslager befreit worden sind. Das hat erst mal keine Rolle gespielt. Das spielt aber nach und nach eine Rolle, weil den Verwaltungsbehörden klar geworden ist: Man kann nicht allen Menschen die gleichen Rechte zusprechen, egal ob sie Täter oder Opfer geworden sind. Und basierend auf dieser Geschichte nach und nach rauszufinden, welche Personengruppe wie vulnerable ist, hat man sich wieder zurückorientiert an den Flüchtlings-Begriff, den man auch nach dem Ersten Weltkrieg benutzt hat für Menschen, die wegen des Kriegsgeschehens in erster Linie geflüchtet sind. Das heißt der Flüchtling oder der Geflüchtete ist sehr viel vulnerable als die Displaced Persons – unter Umständen! Es kommt jetzt wirklich darauf an, wen wir uns anschauen, aber die Geflüchteten haben ihre Heimatländer verlassen aufgrund von Kriegseinwirkungen, aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, weil sie dorthin nicht zurückkehren können, sind sie Geflüchtete und brauchen einen Schutzstatus. Displaced Persons, hat man gehofft, kann man zurück in ihr Heimatland bringen.

00:37:29: Dann wäre noch eine Frage: Wie kann man denn mit den Forschungsergebnissen oder mit deiner Forschung umgehen um auch die Gesellschaft sensibler für das Thema zu machen?

00:37:40: Das finde ich eine richtig schöne Hörerinnen-Frage. Ich glaube, eine der großen Aspekte meiner Forschung ist ja, dass ich mich damit beschäftige, wie die Displaced Persons selber Einfluss genommen haben auf ihre Biografien, indem sie sich beispielsweise als Interessenvertretungen zusammengeschlossen haben und sich für ihre Rechte wirklich eingesetzt haben. Dass sie beispielsweise nicht repatriiert werden, dass sie bessergestellt werden, dass sie Schutzrechte bekommen. Und übertragbar auf unsere heutige Gesellschaft kann das bedeuten, ernster zu nehmen, was Geflüchtete heute brauchen, was sie heute fordern, und nicht genau den Gleichen, in Anführungsstrichen, „Fehler“ zu machen, die zu verwalten, als seien sie Objekte. Es geht darum, die Menschen und ihre Anliegen wahrzunehmen, egal ob sie sich gerade im Transit befinden oder nicht. Das ist eine der besonders großen Lehren meiner Dissertation.

00:38:42: Sehr schön, dass auch direkt die nächste Frage beantwortet, was das eigentlich mit der heutigen, ja, mit heutigen Diskursen über Geflüchtete. Wie man das verbinden kann oder wie das alles zusammenhängt.

00:38:55: Spannenderweise schreibe ich ja meine Dissertation zu einem Zeitpunkt, wo es ein Angriffskrieg auf die Ukraine gegeben hat, wo Menschen fliehen, wo wieder darüber diskutiert wird, Wer kann eigentlich aufgenommen werden, wer nicht und wo es auch eine unterschiedliche Behandlung gibt zwischen verschiedenen Geflüchteten. Wenn wir jetzt an die polnische Grenze denken, wo Persons of Colour sehr viel schwieriger haben durchgelassen zu werden als ukrainisch Geflüchtete, dann hat die Diskussion darum ganz, ganz große Parallelen zu dem, was ich auch untersuche. Sowohl, dass die Gruppen der Geflüchteten selbst sich gegeneinander beweisen und behaupten, weil sie irgendwie um im Kampf um Ressourcen stehen, scheinbar, weil ihnen nicht allen Schutzrechte zugesprochen werden. Und gleichzeitig sieht man, dass die Art und Weise, wie Menschen kategorisiert werden, immer noch eine ähnliche ist. Also dass Hautfarbe eine Rolle spielt, dass es scheinbar leichter ist, Menschen aufzunehmen, die man für europäisiert hält, denen man den weißen europäischen Status zuspricht, wohingegen Leute aus anderen Orten/Kulturkreisen ganz anders wahrgenommen werden. Und die Diskurse, die ähneln sich sehr, insbesondere wenn es um die Zugehörigkeit von Ukrainer*innen geht. Weil, auch zu meiner Zeit wird diskutiert, sollten die eigentlich als eigene Nationsgruppe angesehen werden, dass Europäer sind, dass Osteuropäer, sind es Mitglieder der Sowjetunion. Das liegt natürlich daran, dass die Ukrainer während der Zeit des Nationalsozialismus als Staat ausgerufen worden ist, 1941 und quasi entsteht während des Krieges und es einen ganz schwierigen Umgang macht. Und das Erbe dieser Diskussionen, dass genau das führen wir noch heute.

00:40:47: Danke schön. Danke. Hast du auch noch eine Frage, Marko?

00:40:51: Ja, ich glaube, ja. Hallo. Ich bin der Marco. Ich bin der Audio-Mensch vom SFB-Podcast „Sone/Solche“. Und tatsächlich habe ich auch eine Frage, die so am Rande was mit dem Thema zu tun gehabt hat. Mir ist jetzt heute das erste Mal aufgefallen, dass Leute, die sich mit Geschichte so intensiv beschäftigen, da ja auch wirklich Emotionen empfinden. Und da frage ich mich, hat das vielleicht auch der Nationalsozialismus ist ein sehr nahes Thema, auch heute immer noch sehr präsent das Thema. Aber generell, in der Geschichte hat man immer so eine Verbindung zu dem Thema, mit dem man arbeitet? Oder würde man sagen jetzt im Mittelalter hat man nicht mehr so einen Bezug, oder in Ägypten? Oder liegt das vielleicht auch wirklich an den Texten der persönlichen Leute und es hat es einfach was anderes, die Hieroglyphen zu lesen und sozusagen diesen Geschichtsnachbau zu verstehen oder wirklich das eigene Individuum zu verstehen und vielleicht dadurch auch näher an der einzelnen Person dran zu sein.

00:41:56: Vielen Dank für die spannende Frage. Geschichte hängt immer von denjenigen ab, die sie schreiben. Also man kann ein historisches Werk – und ich meine damit jetzt Geschichtsschreibung – zum Beispiel meine Dissertation… am Ende wird man nicht von mir als Individuum trennen können und ich als Individuum kann mich begeistern für diese Zeit. Und das geht auch Mittelalter-Historikern so und das geht auch Leuten der alten Geschichte so! Das heißt natürlich nicht, dass ich, als jemand der Zeitgeschichte macht, jetzt unglaublich viel Interesse an anderen Epochen habe. Ich werde das nicht für jeden Gegenstand gleich haben, aber prinzipiell können wir uns alle damit mehr oder weniger identifizieren, was wir machen. Das muss aber nicht immer das gleiche Interesse sein. Also ich habe eine sehr emotionale Verbindung dazu, weil es – und das hast du sehr schön geschildert – um eine Zeit geht, die ja auch so schockierend ist, dass man emotional dazu gebunden ist. Aber man kann auch ganz andere Verbindungen zu seinem Gegenstand herstellen. Das können Fragen von heute sein. Wie funktioniert eigentlich Geld? Was ist eigentlich eine Münze? Warum funktioniert Ökonomie so, dass man solche Gegenstände hat? Und dann gibt es Menschen, die sind Numismatiker, die gucken sich Münzen, Münzen der Antike an und sind Feuer und Flamme dafür. Das heißt, es gibt immer, wenn man in der Geschichte forscht, einen Bezug zur Gegenwart. Geschichte schreibt sich heutzutage zumindest nicht mehr als etwas, das man nur schreibt, um zu wissen, wie es gewesen ist, sondern weil man davon ausgeht, dass die Vergangenheit mit unserer Gegenwart zusammenhängt und dass unsere Gegenwart auf dem basiert, was in der Vergangenheit war. Und wenn man sich dann nicht identifizieren kann und diese Verbindung nicht herstellt, dann ist es nicht mehr wissenschaftlich. Dann ist das vielleicht ein Hobby, indem man irgendwie sagt Ich finde XY in der Vergangenheit spannend, deswegen gucke ich mir das an, aber Historiker*innen haben meistens eine Frage an die Geschichte, die mit unserer heutigen Gegenwart zu tun hat.

00:43:57: Ah, sehr interessant. Vielen Dank.

00:43:59: Nächsten Monat bleiben wir in der Nachkriegszeit, wechseln aber wie auch Ernest Michel den Kontinent. Anja-Maria Bassimir forsch in der Amerikanistik und beschäftigt sich mit Ernährungspolitik, insbesondere für Arbeiter*innen und Migrant*innen. Mich hat das Thema der Displaced Persons nach dem Gespräch mit Christina erst einmal nicht mehr wieder losgelassen. Weshalb ich euch jetzt noch eine Podcast Empfehlung anspreche, für einen Podcast, den ich innerhalb von zwei Tagen durchgehört habe. Es sind sieben Episoden von einer jungen Frau Rachael Cerrotti, die der Geschichte ihrer Großmutter nachreist. Also sie versucht wirklich jede Station, die ihre Großmutter auf der Flucht bereist hat, nachzugehen, Leute zu treffen und Details aus ihrem Leben zu finden. „We Share The Same Sky“ ist ein sehr bewegender Podcast und ich habe ihn euch in die Shownotes gepackt.

00:43:59:

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